Katinka Fischer, Wiesbaden
Brigitte Dirting: Vertikal
Arbeiten auf Karton
Malerei ohne Zeichnung ist in
Brigitte Dirtings Schaffen nicht zu
denken. Und umgekehrt: Dirtings
Zeichnung hat immer auch eine
malerische Seite. In ein simples
Entweder-Oder-Schema passen
ihre Bilder deswegen aber noch
lange nicht. Auf ein und demselben Untergrund führt die Künstlerin die gemalte,
langsam entstandene und bis zum Schluss veränderbare Form zusammen
mit dem unumkehrbaren gezeichneten Strich, der auf Anhieb
sitzen muss. Dass jede einzelne
Arbeit eine Zwillingsseele hat und
beides, Malerei und Zeichnung,
zugleich enthält, bringt die Künstlerin selbst am treffendsten auf
den Punkt, wenn sie sagt: "Ich
zeichne mit dem Pinsel”.
Seit Brigitte Dirtings künstlerische Arbeit in den frühen 80er
Jahren begann, setzt sie sich mit
Linie und Fläche, Farbe und Form
auseinander. Abstrakte Gebilde
aus gestischen Pinselschwüngen
in Acryl auf Leinwand, Karton
oder Papier, die sich häufig zu
dunkler Tiefe ballen und zusammen mit feinen, bewusst gesetzten, aber sehr freien
Linien aus Graphit oder Kreide von fernen
harmonischen Räumen erzählen, bestimmen Dirtings bereits mehrfach ausgestelltes
Werk. Diesem formalen Prinzip folgen auch die
Materialbilder, die während der
90er Jahre entstanden und in
denen Dirting Fundstücke wie
rostige Dachrinnen, Strandgut
oder bedruckte Glasplatten verarbeitete: Durch Korrosion strukturierte, in die
dritte Dimension weisende Fläche kommuniziert mit
zarten zeichnerischen Elementen
wie dünnem Draht, brüchigen
Kanten von Metallteilen, Haarrissen im Holz oder dem von der
Hand gezogenen Strich.
Von vordergründig ganz anderer Gestalt sind die sämtlich im
Jahr 2005 gemalten Bilder ihrer jüngsten Werkphase: 15 Arbeiten
in Acryl auf jeweils 50 mal 70
Zentimeter großem Karton wurden am 3. Juni 2005 im Foyer des
Wiesbadener Rathauses erstmals
öffentlich präsentiert. In zweierlei
Hinsicht wirkt die neue Reihe zunächst eher untypisch für Dirtings
Werk - es verbinden sich darin
formale Strenge mit einer für die
Künstlerin ebenso ungewohnt
starken, deckenden Farbigkeit.
Kompositionen aus unterschiedlich breiten, bisweilen wieder auf
feine Linien zurück genommenen
Streifen und Balken haben nun
eine eindeutige, geometrisch
klare Richtung: Sie weisen nach
oben - poetisch, wie es dem Wesen von Brigitte Dirtings Kunst
selbst im Falle einer eher strengen Ästhetik entspricht, könnte man
ebenso sagen: himmelwärts.
"Vertikal” hat sie deswegen
auch ihre neue Werkgruppe betitelt. Ein zarter, in wechselnden
Konstellationen artikulierter Dialog zwischen Linie und Fläche
spart die Waagrechte indes nie
ganz aus. Wie aus tiefer begründeten Ebenen scheinen quer verlaufende, schmale
Streifen und Linien hervor, die die Senkrechte
kreuzen und mit ihr Rechtecke
und Quadrate bilden. Selbst dort,
wo die Horizontale im konkreten
Sinne fehlt, wird sie doch zumindest mitgedacht - von der Vertikalen könnten
wir uns ohne die Idee ihres Gegenteils gar keinen
Begriff machen.
Bei aller Geometrie und Rechtwinkligkeit, die in ihrer neuen
Bild-Serie auffällt, wird Brigitte
Dirting nun aber nicht zur Konstruktivistin. Ihre Linien haben
Seele, sind sinnlich, zeugen von
tiefer Emotion. Von Ausnahmen
abgesehen, wenn Klebeband
oder der Rand einer Zeitungsseite
den Bilduntergrund in Felder unterteilt, sind ihre Formen nicht am
Reißbrett entstanden, sondern
leben von den Unregelmäßigkeiten des mit freier Hand gezogenen, den Bilduntergrund
souverän beherrschenden Strichs. Das
gleiche gilt für die Struktur der
Fläche, die durch einen nie ganz
ebenmäßig deckenden Farbauftrag in Bewegung gerät und zu
atmen beginnt. Beim Anblick der
"vertikalen” Serie kann man besonders gut nachempfinden,
warum Dirting neben dem abstrakten Expressionisten Robert Motherwell als Verwandte
im Geiste auch stillere Künstler wie
den reduziert arbeitenden Fritz
Klemm oder den zwischen Bild-
und gedanklichen Räumen grenzgehenden Jürgen Partenheimer
nennt.
Obwohl die Farbe nun autonomer
ist als in früheren Arbeiten, wird
Brigitte Dirting auch in ihren
jüngsten Bildern nicht bunt. So
verzichtet sie nur selten völlig auf
Schwarz, das der ohnehin nie signalhaften, sondern meist gebrochenen Tönung zusätzliche Tiefe
verleiht. Vier der 15 neuen Arbeiten sind sogar ganz auf schwarz-
weiße Nicht-Farbe reduziert.
Diese Gruppe in der Gruppe, die
zudem gestische Reste und viel
freien, weißen Untergrund offenbart, scheint wie ein Bindeglied
zwischen zurück liegenden Werkphasen und den jüngsten Ergebnissen ihres Schaffens.
Von Beginn, ihrer künstlerischen Arbeit an richtete sich
Brigitte Dirtings Interesse weniger
auf die Oberfläche, als auf das
Dahinter und Darunter. Daran hat
sich bis heute nichts geändert.
Ihre Bilder sind Metaphern für
Zeit und Vergänglichkeit, die Verborgenes und Gewesenes hervorholen und sichtbar
machen. Wer sich auf sie einlässt und sich Zeit
nimmt, kann förmlich fühlen, dass
ihrem Schaffensprozess intensive
geistige Arbeit vorausgeht. Die
Nähe zu Philosophie, Literatur
und Lyrik, die Brigitte Dirting parallel zu ihrer eigenen schöpferischen Arbeit
befragt, wirken auf ihr Werk, werden nicht im realistischen Sinne sichtbar,
aber schwingen mit in der ein jedes
Werk umgebenden Aura. Spuren
und Zeichen, deren Sicherung in
abstrakter wie in konkreter Hinsicht ihr Thema ist, schafft sie
selbst und hat dafür eine spezielle
Technik entwickelt: Mit angespitztem Bambusrohr ritzt sie
viele kleine, nicht in reale Sprache, aber in Ahnungen und Erinnerungen übersetzbare
Kürzel in
die feuchte, oft in mehrfachen
Schichten aufgetragene Farbe.
Diese winzigen Chiffren, die unter
der dichten Acryldecke hervor
schimmern, manifestieren das inhaltliche Anliegen der Künstlerin
und verhelfen tiefer gelegenen
Bewusstseinsstufen ans Licht.
Ihre Themen hat Brigitte
Dirting im Grunde immer schon
"in Serie” umgesetzt, ohne dabei
aber die Autonomie des Einzelwerks anzutasten. Dessen Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit
wird dadurch im Gegenteil nur
umso deutlicher. Was Format,
Komposition und letztlich auch
Bild-Titel angeht, wandte sie
wirklich strenge serielle Prinzipien
aber erstmals bei der vielteiligen
Reihe schreibblattgroßer Querformate an, die bezeichnenderweise
„Horizonte” heißt und vieles von
der „vertikalen” Werkgruppe vorwegnimmt. Besonders deutlich
zeigt sich darin Dirtings Fähigkeit,
durch größte Reduktion ganze - und durchaus lebendige - Welten entstehen zu lassen.
In einem Fall braucht sie dafür nur eine einzige
waagrechte Linie, die die monochrome Bildfläche teilt und innere
Bilder von Wüstenweite, ungefiltertem Licht und Unendlichkeit
erzeugt.
Im übentragenen wie im konkreten Sinn klingt in den "Horizonten” eine
der neben den geistigen Welten wesentlichen Inspirationsquellen von Brigitte
Dirting an: die Natur. Die Künstlerin liefert sich der Natur regelrecht
aus, bevor sie sich an die Staffelei oder an den Zeichentisch
begibt. Ihre Bilder entstehen häufig unter dem Eindruck der speziellen Formen-
und Farbkonstellationen exotischer Landschaft und meist auch im Dialog mit
speziellem, in hiesigen Breitengraden doch ungewohntem Licht.
Nicht, dass Brigitte Dirting sich
all dies bewusst macht, bevor sie
zu Stift beziehungsweise Pinsel
greift. Auch dies ist typisch für ihr
Werk: Das Werden eines Bildes ist
ein Experiment mit offenem Ausgang, den sie ungeduldig erwartet und deswegen auch nicht in
Öl, sondern im schnelleren Acryl
arbeitet, den sie dennoch ganz
ohne Eile herbeiführt. Umgekehrt
duldet die Aura des Meditativen,
die die Bilder stets umgibt, ebenfalls kein schnelles Vorübergehen
des Betrachters, sondern verlangt
auch ihm ein Verweilen, ein Innehalten ab.
Dass auf dem Untergrund passiert, was passieren muss, und
unbewusste Prozesse die Komposition steuern, die Brigitte Dirting
wiederum mit großer Intuition für
Ordnung und Harmonie auf die
Leinwand bringt, merkt man auch
ihrer aktuellen Werkgruppe an.
So hat sie etwa die Marokko-Reise, die sie kurz zuvor unternommen hatte, in ihren
neuen Bildern nicht mit Vorsatz verarbeitet. Dass sich die in dem fernen
Land gesammelten Eindrücke
aber doch eingebrannt haben und
sich den Weg auf den Bilduntergrund bahnen konnten, ohne
dass es der wissenden Steuerung
bedurfte, drängt sich beim Anblick des fertigen Werks geradezu
auf: Der Zusammenklang von
erdigen und leuchtenden Farben
- loderndes Orange etwa, trockenes Ocker oder das Rot eines Sonnenuntergangs
- lassen Wärme,
karge Erde und ungefiltert glühende Sonne assoziieren. Das freilich erreicht Brigitte Dirting
nicht mit den Mitteln des Realismus, sondern mit einer umso
suggestiveren, bis an minimalistische Grenzen vorstoßenden
Reduktion.
Dass die aktuellen Bilder durch eine für ihr Werk überraschend neue Ästhetik auffallen, mag
auch dem Beginn einer neuen Arbeitsphase geschuldet sein. Es sind die ersten Arbeiten nach dem
Auszug aus der „Halle” im Wiesbadener Stadtteil Bierstadt.
Dirting gehört zu der gleichnamigen Gruppe von insgesamt sechs Künstlerinnen, die in der ehemaligen Wäscherei zehn Jahre lang
arbeiteten, ausstellten und den Ort nicht nur in der eigenen Stadt,
sondern durch regelmäßigen Künstleraustausch auch im Ausland zu einem Begriff machten.
Nachdem ihre „Halle” abgerissen wurde, machen sie zwar weiter
gemeinsame Sache, haben ihre Ateliers nun aber an unterschiedliche Orte verlegt. Brigitte Dirtings
Arbeitsraum befindet sich im oberen Stockwerk ihres Privathauses.
Auch dort ist sie der Natur sehr nahe, hat die Taunushügel und
opulent wuchernde Gärten vor Augen. Ein solcher Ort erlaubt ein
unabgelenktes, von medialen Reizen unbeeinflusstes Schaffen und
begünstigt Dirtings regelmäßige und disziplinierte Arbeitsweise.
So zurückhaltend und vorsichtig Brigitte Dirting im Umgang mit ihrer Umwelt wirkt, so besticht die Arbeit der Künstlerin - bei aller Zartheit - durch eine von
Intuition getragene Kraft. Auf so strenge wie poetische Weise schwindet in ihren Arbeiten die Polarität zwischen Ruhe und Bewegung, Offen- und Geschlossenheit, Reduktion und Expressivität,
fallen die Grenzen zwischen Sinnen und Geist.