Fotos: ©Ingrid Blaurock
         Vertikal XV
         2005

Künstlerbücher & Poesie

Texte

Katinka Fischer, Wiesbaden

Brigitte Dirting: Vertikal
Arbeiten auf Karton

Malerei ohne Zeichnung ist in Brigitte Dirtings Schaffen nicht zu denken. Und umgekehrt: Dirtings Zeichnung hat immer auch eine malerische Seite. In ein simples Entweder-Oder-Schema passen ihre Bilder deswegen aber noch lange nicht. Auf ein und demselben Untergrund führt die Künstlerin die gemalte, langsam entstandene und bis zum Schluss veränderbare Form zusammen mit dem unumkehrbaren gezeichneten Strich, der auf Anhieb sitzen muss. Dass jede einzelne Arbeit eine Zwillingsseele hat und beides, Malerei und Zeichnung, zugleich enthält, bringt die Künstlerin selbst am treffendsten auf den Punkt, wenn sie sagt: "Ich zeichne mit dem Pinsel”.

Seit Brigitte Dirtings künstlerische Arbeit in den frühen 80er Jahren begann, setzt sie sich mit Linie und Fläche, Farbe und Form auseinander. Abstrakte Gebilde aus gestischen Pinselschwüngen in Acryl auf Leinwand, Karton oder Papier, die sich häufig zu dunkler Tiefe ballen und zusammen mit feinen, bewusst gesetzten, aber sehr freien Linien aus Graphit oder Kreide von fernen harmonischen Räumen erzählen, bestimmen Dirtings bereits mehrfach ausgestelltes Werk. Diesem formalen Prinzip folgen auch die Materialbilder, die während der 90er Jahre entstanden und in denen Dirting Fundstücke wie rostige Dachrinnen, Strandgut oder bedruckte Glasplatten verarbeitete: Durch Korrosion strukturierte, in die dritte Dimension weisende Fläche kommuniziert mit zarten zeichnerischen Elementen wie dünnem Draht, brüchigen Kanten von Metallteilen, Haarrissen im Holz oder dem von der Hand gezogenen Strich.

Von vordergründig ganz anderer Gestalt sind die sämtlich im Jahr 2005 gemalten Bilder ihrer jüngsten Werkphase: 15 Arbeiten in Acryl auf jeweils 50 mal 70 Zentimeter großem Karton wurden am 3. Juni 2005 im Foyer des Wiesbadener Rathauses erstmals öffentlich präsentiert. In zweierlei Hinsicht wirkt die neue Reihe zunächst eher untypisch für Dirtings Werk - es verbinden sich darin formale Strenge mit einer für die Künstlerin ebenso ungewohnt starken, deckenden Farbigkeit. Kompositionen aus unterschiedlich breiten, bisweilen wieder auf feine Linien zurück genommenen Streifen und Balken haben nun eine eindeutige, geometrisch klare Richtung: Sie weisen nach oben - poetisch, wie es dem Wesen von Brigitte Dirtings Kunst selbst im Falle einer eher strengen Ästhetik entspricht, könnte man ebenso sagen: himmelwärts.

"Vertikal” hat sie deswegen auch ihre neue Werkgruppe betitelt. Ein zarter, in wechselnden Konstellationen artikulierter Dialog zwischen Linie und Fläche spart die Waagrechte indes nie ganz aus. Wie aus tiefer begründeten Ebenen scheinen quer verlaufende, schmale Streifen und Linien hervor, die die Senkrechte kreuzen und mit ihr Rechtecke und Quadrate bilden. Selbst dort, wo die Horizontale im konkreten Sinne fehlt, wird sie doch zumindest mitgedacht - von der Vertikalen könnten wir uns ohne die Idee ihres Gegenteils gar keinen Begriff machen.

Bei aller Geometrie und Rechtwinkligkeit, die in ihrer neuen Bild-Serie auffällt, wird Brigitte Dirting nun aber nicht zur Konstruktivistin. Ihre Linien haben Seele, sind sinnlich, zeugen von tiefer Emotion. Von Ausnahmen abgesehen, wenn Klebeband oder der Rand einer Zeitungsseite den Bilduntergrund in Felder unterteilt, sind ihre Formen nicht am Reißbrett entstanden, sondern leben von den Unregelmäßigkeiten des mit freier Hand gezogenen, den Bilduntergrund souverän beherrschenden Strichs. Das gleiche gilt für die Struktur der Fläche, die durch einen nie ganz ebenmäßig deckenden Farbauftrag in Bewegung gerät und zu atmen beginnt. Beim Anblick der "vertikalen” Serie kann man besonders gut nachempfinden, warum Dirting neben dem abstrakten Expressionisten Robert Motherwell als Verwandte im Geiste auch stillere Künstler wie den reduziert arbeitenden Fritz Klemm oder den zwischen Bild- und gedanklichen Räumen grenzgehenden Jürgen Partenheimer nennt.
Obwohl die Farbe nun autonomer ist als in früheren Arbeiten, wird Brigitte Dirting auch in ihren jüngsten Bildern nicht bunt. So verzichtet sie nur selten völlig auf Schwarz, das der ohnehin nie signalhaften, sondern meist gebrochenen Tönung zusätzliche Tiefe verleiht. Vier der 15 neuen Arbeiten sind sogar ganz auf schwarz- weiße Nicht-Farbe reduziert. Diese Gruppe in der Gruppe, die zudem gestische Reste und viel freien, weißen Untergrund offenbart, scheint wie ein Bindeglied zwischen zurück liegenden Werkphasen und den jüngsten Ergebnissen ihres Schaffens.

Von Beginn, ihrer künstlerischen Arbeit an richtete sich Brigitte Dirtings Interesse weniger auf die Oberfläche, als auf das Dahinter und Darunter. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Ihre Bilder sind Metaphern für Zeit und Vergänglichkeit, die Verborgenes und Gewesenes hervorholen und sichtbar machen. Wer sich auf sie einlässt und sich Zeit nimmt, kann förmlich fühlen, dass ihrem Schaffensprozess intensive geistige Arbeit vorausgeht. Die Nähe zu Philosophie, Literatur und Lyrik, die Brigitte Dirting parallel zu ihrer eigenen schöpferischen Arbeit befragt, wirken auf ihr Werk, werden nicht im realistischen Sinne sichtbar, aber schwingen mit in der ein jedes Werk umgebenden Aura. Spuren und Zeichen, deren Sicherung in abstrakter wie in konkreter Hinsicht ihr Thema ist, schafft sie selbst und hat dafür eine spezielle Technik entwickelt: Mit angespitztem Bambusrohr ritzt sie viele kleine, nicht in reale Sprache, aber in Ahnungen und Erinnerungen übersetzbare Kürzel in die feuchte, oft in mehrfachen Schichten aufgetragene Farbe. Diese winzigen Chiffren, die unter der dichten Acryldecke hervor schimmern, manifestieren das inhaltliche Anliegen der Künstlerin und verhelfen tiefer gelegenen Bewusstseinsstufen ans Licht.

Ihre Themen hat Brigitte Dirting im Grunde immer schon "in Serie” umgesetzt, ohne dabei aber die Autonomie des Einzelwerks anzutasten. Dessen Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit wird dadurch im Gegenteil nur umso deutlicher. Was Format, Komposition und letztlich auch Bild-Titel angeht, wandte sie wirklich strenge serielle Prinzipien aber erstmals bei der vielteiligen Reihe schreibblattgroßer Querformate an, die bezeichnenderweise „Horizonte” heißt und vieles von der „vertikalen” Werkgruppe vorwegnimmt. Besonders deutlich zeigt sich darin Dirtings Fähigkeit, durch größte Reduktion ganze - und durchaus lebendige - Welten entstehen zu lassen. In einem Fall braucht sie dafür nur eine einzige waagrechte Linie, die die monochrome Bildfläche teilt und innere Bilder von Wüstenweite, ungefiltertem Licht und Unendlichkeit erzeugt.

Im übentragenen wie im konkreten Sinn klingt in den "Horizonten” eine der neben den geistigen Welten wesentlichen Inspirationsquellen von Brigitte Dirting an: die Natur. Die Künstlerin liefert sich der Natur regelrecht aus, bevor sie sich an die Staffelei oder an den Zeichentisch begibt. Ihre Bilder entstehen häufig unter dem Eindruck der speziellen Formen- und Farbkonstellationen exotischer Landschaft und meist auch im Dialog mit speziellem, in hiesigen Breitengraden doch ungewohntem Licht.

Nicht, dass Brigitte Dirting sich all dies bewusst macht, bevor sie zu Stift beziehungsweise Pinsel greift. Auch dies ist typisch für ihr Werk: Das Werden eines Bildes ist ein Experiment mit offenem Ausgang, den sie ungeduldig erwartet und deswegen auch nicht in Öl, sondern im schnelleren Acryl arbeitet, den sie dennoch ganz ohne Eile herbeiführt. Umgekehrt duldet die Aura des Meditativen, die die Bilder stets umgibt, ebenfalls kein schnelles Vorübergehen des Betrachters, sondern verlangt auch ihm ein Verweilen, ein Innehalten ab.

Dass auf dem Untergrund passiert, was passieren muss, und unbewusste Prozesse die Komposition steuern, die Brigitte Dirting wiederum mit großer Intuition für Ordnung und Harmonie auf die Leinwand bringt, merkt man auch ihrer aktuellen Werkgruppe an. So hat sie etwa die Marokko-Reise, die sie kurz zuvor unternommen hatte, in ihren neuen Bildern nicht mit Vorsatz verarbeitet. Dass sich die in dem fernen Land gesammelten Eindrücke aber doch eingebrannt haben und sich den Weg auf den Bilduntergrund bahnen konnten, ohne dass es der wissenden Steuerung bedurfte, drängt sich beim Anblick des fertigen Werks geradezu auf: Der Zusammenklang von erdigen und leuchtenden Farben - loderndes Orange etwa, trockenes Ocker oder das Rot eines Sonnenuntergangs - lassen Wärme, karge Erde und ungefiltert glühende Sonne assoziieren. Das freilich erreicht Brigitte Dirting nicht mit den Mitteln des Realismus, sondern mit einer umso suggestiveren, bis an minimalistische Grenzen vorstoßenden Reduktion.

Dass die aktuellen Bilder durch eine für ihr Werk überraschend neue Ästhetik auffallen, mag auch dem Beginn einer neuen Arbeitsphase geschuldet sein. Es sind die ersten Arbeiten nach dem Auszug aus der „Halle” im Wiesbadener Stadtteil Bierstadt. Dirting gehört zu der gleichnamigen Gruppe von insgesamt sechs Künstlerinnen, die in der ehemaligen Wäscherei zehn Jahre lang arbeiteten, ausstellten und den Ort nicht nur in der eigenen Stadt, sondern durch regelmäßigen Künstleraustausch auch im Ausland zu einem Begriff machten. Nachdem ihre „Halle” abgerissen wurde, machen sie zwar weiter gemeinsame Sache, haben ihre Ateliers nun aber an unterschiedliche Orte verlegt. Brigitte Dirtings Arbeitsraum befindet sich im oberen Stockwerk ihres Privathauses. Auch dort ist sie der Natur sehr nahe, hat die Taunushügel und opulent wuchernde Gärten vor Augen. Ein solcher Ort erlaubt ein unabgelenktes, von medialen Reizen unbeeinflusstes Schaffen und begünstigt Dirtings regelmäßige und disziplinierte Arbeitsweise.

So zurückhaltend und vorsichtig Brigitte Dirting im Umgang mit ihrer Umwelt wirkt, so besticht die Arbeit der Künstlerin - bei aller Zartheit - durch eine von Intuition getragene Kraft. Auf so strenge wie poetische Weise schwindet in ihren Arbeiten die Polarität zwischen Ruhe und Bewegung, Offen- und Geschlossenheit, Reduktion und Expressivität, fallen die Grenzen zwischen Sinnen und Geist.